Samstag, 1. Oktober 2016

Und jedem Anfang wohnt ein Zauber inne

Stufen
  Wie jede Blüte welkt und jede Jugend
Dem Alter weicht, blüht jede Lebensstufe,
Blüht jede Weisheit auch und jede Tugend
Zu ihrer Zeit und darf nicht ewig dauern.
Es muß das Herz bei jedem Lebensrufe
Bereit zum Abschied sein und Neubeginne,
Um sich in Tapferkeit und ohne Trauern
In andre, neue Bindungen zu geben.
Und jedem Anfang wohnt ein Zauber inne,
Der uns beschützt und der uns hilft, zu leben.


Wir sollen heiter Raum um Raum durchschreiten,
An keinem wie an einer Heimat hängen,
Der Weltgeist will nicht fesseln uns und engen,
Er will uns Stuf' um Stufe heben, weiten.
Kaum sind wir heimisch einem Lebenskreise
Und traulich eingewohnt, so droht Erschlaffen,
Nur wer bereit zu Aufbruch ist und Reise,
Mag lähmender Gewöhnung sich entraffen.


Es wird vielleicht auch noch die Todesstunde
Uns neuen Räumen jung entgegen senden,
Des Lebens Ruf an uns wird niemals enden...
Wohlan denn, Herz, nimm Abschied und gesunde!
(Hermann Hesse)

Eine Biene befruchtet eine Blüte. Daraus wird eine neue Pflanze entstehen. Die Biene erhält als Gegenzug Nektar, mit dem sie selbst und die Neugeborenen über den Winter kommen. Gleichzeitig stirbt aber diese Blüte, denn mit der Entwicklung neuen Samens ist ihre Lebensenergie verwirkt. Und auch viele Bienen werden sterben oder im Frühjahr schwärmen, im den Neuen Platz zu machen...

Ja, es ist schon eine seltsame Wechselbeziehung zwischen einem Ende und einem Anfang. Ich meine, was assoziiert ihr mit den jeweiligen Begriffen?
Mit Ende assoziere ich erst einmal einen Schlussstrich, Trauer, Endgültigkeit, Vermissen und Herzschmerz.
Mit Anfang hingegen assoziiere ich Neubeginn, Frische, Energie, Start, Hoffnung, Liebe, Stärke.

Das bedeutet für mich, dass ich den Anfang generell eher positiv besetze, während ich mich vor einem Ende eher sträube.
Aber ist es nicht so, dass das eine auch das andere bedingt? Ich meine, was ist mit der Redewendung "der Anfang allen Endes" oder "aller Ende Anfang"? Bedeutet nicht der Anfang der erste Schritt zum Ende und ist nicht das Ende der erste Schritt zu einem (Neu-)Anfang?

Die Polarität unserer Gefühle
Wer sich schon einmal mit seiner Gefühlswelt genauer auseinander gesetzt hat, sei es nun therapeutisch, studierend, aus einer direkten Erfahrung oder einfach nur aus einem gesteigerten Interesse heraus, der wird merken, dass wir als Menschen fast nur in der Lage sind, Gefühle in ihrer Polarität zu erfahren. Oder könnt ihr euch vorstellen, tiefste Trauer zu empfinden, wenn ihr nicht wisst, wie sich Glück anfühlt? Oder anders, denkt ihr ihr könnt wirklich glücklich sein, wenn ihr noch niemals in eurem Leben Trauer empfunden habt? Ich denke, dass dies nicht so ohne weiteres möglich ist.
Überlege doch einmal für dich selbst: Gehe von deinem jetzigen Standunkt aus. Überlege, nein, höre in dich hinnein, wie geht es dir. Bist du glücklich? Oder bist du eher traurig mit deiner momentanen Situation? Und warum geht es dir so? Bist du glücklich, weil du vor einiger Zeit eine schwierige Situation bewältigt hast oder weil es dir schon einmal deutlich schlechter ging? Oder bist du traurig, weil du vielleicht einen guten Freund verloren hast und du dich so gerne an die glückliche Zeit zu zweit zurück erinnerst?

Mir ist diese Polarität der Gefühle (übrigens soweit ich weiß kein wissenschaftlicher Begriff) erst neulich aufgefallen. Ich saß an einem sonnigen Morgen auf unserem Balkon und habe gefrühstückt. Es war warm, die Vögel zwitscherten und die Geräusche der Straße drangen nur ganz leise den Berg herauf. Ich saß dort, genoß die Aussicht und war einfach nur glücklich. Diese warme Zufriedenheit in mir, die sich von meinem Herzen in alle Glieder ausbreitete und mich beinahe weinen ließ. Ich war absolut überwältigt von meinen eigenen Emotionen und fragte mich, was plötzlich mit mir los sei. Ich meine, sowas hatte ich noch nie erlebt! Ich überlegte und dann dämmerte es mir: Mir wurde plötzlich bewusst, was ich mit meinem Mann in den letzten vier Jahren geleistet hatte.
Wir haben uns finanziell und sozial um mindestens 100% verbessert.
Ich habe einen Job gefunden, den ich mag (generell gesehen, dazu später mehr)
Ich fühle mich zum ersten Mal gesund, insbesondere psychisch (2009 wurde bei mir eine Störung diagnostiziert, natürlich ist die nicht "weg" aber ich kann mittlerweile wirklich gut damit, aber das vielleicht auch ein andermal).
Wirklich, ich saß auf diesem Balkon und war nurnoch vor Glück am Flennen und ich dankte einfach Gott, dass er mir durch die Querelen der letzten Jahre die Augen für mein tolles Leben geöffnet hatte.

Was soll das jetzt?
Wieso schreibe ich hier über positive und negative Gefühle wenn ich doch oben von Anfängen und Enden rede? Ganz einfach:
Auch Anfang und Ende stehen in Polarität, bedingen sich einander. Ohne Ende gibt es keinen Anfang. Ohne Herbst gibt es keinen Frühling, ohne Abend keinen neuen Morgen oder ohne Trennung keine neue Liebe.
So schmerzhaft, traurig, ätzend und verletzend ein Ende auch sein kann, es hilft uns, einen Neubeginn mehr zu genießen. Und in jedem Ende liegt ein Zauber, oder wie ich es lieber nenne, eine Hoffnung. Die Hoffnung auf etwas Neues, eine neue Aufgaben, neue Umstände, die uns glücklicher machen als wir es vorher waren.

Der Juli 2016 war für mich ein Monat voller Abschiede. Ich hatte meinen Job gekündigt (aus guten Gründen), musste mich aber unter Tränen von "meinen" Kindern, den Eltern, mit denen ich nun lange und intensiv gearbeitet hatte und meinen liebgewonnenen Kolleginnen verabschieden.
Ich musste mich von meinem besten Freund trennen, weil unsere Beziehung eine Dynamik entwickelt hatte, die meine eigentliche Beziehung mit meinem Mann bedroht hatte.
Mein Mann verlor seinen Job.



Doch in all der Trauer und der Wut, war mir eines klar:
Ich habe einen neuen Job und freue mich sehr darauf. Die Vorbereitung vor meinem ersten Arbeitstag ging mir leichter von der Hand als es das beim alten Job je war.
Dass ich mit der Problematik meinen besten Freund betreffend offen mit meinem Mann umgegangen bin, hat sein Vertrauen in mich nur bestärkt und ich habe mich nach der Beendigung der Freundschaft gefühlt, als hätte ich mir Ketten von den Schultern gerissen. Denn dieses hin und her und das schlechte Gewissen, das ich meinem Mann gegenüber hatte (nein, ich habe ihn nie betrogen, trotzdem hatte ich das Gefühl, ihn zu hintergehen), hat mich einfach zermürbt.
Mein Mann hat zwar seinen Job verloren, aber wir haben in den letzten Wochen wieder intensiver Zeit miteinander verbracht, mehr und intensivere Gespräche geführt. Wir wissen beide, dass das nun wieder eine Herausforderung für uns ist, sind aber zuversichtlich, dass sich alles (wie immer) zum Guten wenden wird. Wir sehen es eher als einen Appell an unsere Kreativität und Flexibilität als eine wirkliche Bedrohung unserer Existenz.

Ihr seht, wenn man sich der Dynamik und Polarität von Gefühlen bewusst wird, kann man in jedem Schlechten etwas Gutes finden.

Ich möchte hier natürlich nicht den Eindruck erwecken, dass ich in meinem Job so viel Geld verdiene, dass mich/uns der Jobverlust meines Mannes absolut kalt lässt. Vielmehr möchte ich euch deutlich machen: Es geht immer vorwärts, bisher haben wir alles überlebt. Und was bringt es, uns Sorgen zu machen und die Hände über den Kopf zusammenzuschlagen? Davon wird die Welt auch nicht besser. Also müssen wir nach vorne schauen, das ganze nicht als Ende einer Sache (nämlich des Geldüberflusses) sondern als Neuanfang betrachten (neuer Job, neue Lebensweise, neue Möglichkeiten).

Ich weiß, dass man dieses Denken nicht einfach aus dem Ärmel schütteln kann. Bedenkt, ich habe erst nach vier Jahren rückblickend gelernt und wahrscheinlich war meine Therapie auch nicht gänzlich unnütz dabei.
Trotzdem möchte ich, dass ihr diesen Beitrag als Anstoß versteht und euch mal auf dieses Gedankenexperiment einlasst.

Liebste Grüße,
Daniela

PS.: Hier ist noch ein schöner Artikel, den ich euch in diesem Zusammenhang ans Herz legen möchte Kirche im SWR

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